Ich arbeite nun schon seit vielen Jahren als selbstständige Trauerrednerin. Und immer wieder geht es in diesen vielen Lebensgeschichten darum, wie begegne ich dem Leben und wie dem Tod.
Meine Erfahrungen und mein eigenes Suchen möchte ich in diesem Beitrag mit dir teilen.
Heute erzähle ich von einem Trauergespräch, das mich besonders bewegt hat. Es ging um den Tod einer Mutter – eine Beziehung, die oft von tiefen Emotionen, Erwartungen und Widersprüchen geprägt ist
Mutter-Tochter-Konflikt
Die Mutter, eine lebenslange Auseinandersetzung
Die Mutter ist für viele Menschen eine der prägendsten Figuren im Leben. Oft haben wir ein Idealbild von ihr, das nicht immer der Realität entspricht. Wir sind wütend, wenn sie uns nicht so liebt oder unterstützt, wie wir es uns wünschen. Gleichzeitig erwarten wir von uns selbst, eine gute Tochter oder ein guter Sohn zu sein. Wir möchten helfen, sie unterstützen, für sie da sein – oder wir müssen unseren Zorn über unsere Kindheit und die Familienkonstellation an ihr auslassen.
Wenn die Mutter stirbt, brechen all diese Gefühle über uns herein. Wut, Trauer, Schuld, Erleichterung – ein unüberschaubares Gefühlschaos.
Ein Trauergepräch mit „Karin“
Vor einiger Zeit führte ich ein Gespräch mit Karin, deren 87-jährige Mutter gestorben war. Als ich sie traf, war sie aufgebracht und wütend – nicht auf ihre Mutter, sondern auf die Betreuer, die sie in den letzten Lebensmonaten versorgt hatten. Sie warf ihnen Nachlässigkeit vor und sprach mit großer Aggression über ihre Erfahrungen. Ich fragte sie, unter welchen Umständen ihre Mutter gestorben war.
Die Geschichte, die sie mir erzählte, war komplex und voller Herausforderungen. Nach dem Tod ihres Mannes hatte ihre Mutter weiterhin selbstständig gelebt. Sie wollte ihre Eigenständigkeit bewahren, doch eines Tages vergaß sie, die Herdplatte auszuschalten. Ein Brand brach aus, und sie musste ihre Wohnung verlassen. Aus Angst, dass so etwas erneut passieren könnte, entschied sie sich selbst für einen Umzug ins betreute Wohnen. Doch diese Veränderung brachte neue Schwierigkeiten mit sich.
Der Kampf um einen Pflegeplatz
Die Demenz der Mutter verschlimmerte sich, und Karin sah sich gezwungen, einen Platz in einem Pflegeheim zu finden. Ein schwieriges Unterfangen: Kosten, lange Wartezeiten und die Unsicherheit, ob ein Platz verfügbar war, belasteten sie enorm. Schließlich fand sie ein Heim, doch nach nur zwei Monaten musste es Insolvenz anmelden. Karin stand am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Sie musste ihre Mutter erneut umsiedeln, sich an eine neue Umgebung, neue Regeln und neues Personal gewöhnen. Und sie hatte selbst ein Leben: Ihr Mann war gestorben, ihre Firma musste sie aufgeben, und sie war beruflich stark eingebunden.
Endlich fand sie ein neues Heim, doch es war nicht so angenehm wie das vorherige. Die Mutter verkraftete den erneuten Umzug nicht. Ihre Demenz nahm rapide zu, und wenige Wochen später starb sie. Für Karin war klar: Hätte das Pflegeheim nicht schließen müssen, würde ihre Mutter noch leben.
Schuldgefühle und alte Wunden
Im Laufe unseres Gesprächs rückte die Wut auf die Pflegeheime in den Hintergrund, und andere Gefühle kamen zum Vorschein. Karin begann über ihre Mutter selbst zu sprechen. Diese hatte sich ihr Leben lang bedienen lassen – vor allem von Karins Vater, den Karin vergötterte. Nach seinem Tod hatte sie sich von der Mutter nie wirklich geliebt oder unterstützt gefühlt.
Schon früh zog sie aus und brach den Kontakt teilweise ab. Doch nach dem Tod des Vaters übernahm sie all seine Pflichten gegenüber der Mutter. Sie erledigte den Haushalt, kümmerte sich um Einkäufe, organisierte den Alltag. Doch egal, was sie tat – ihre Mutter verweigerte sich. Sie lehnte Unterstützung ab, sagte zu allem Nein, sogar zu Gesprächen.
Jetzt gab sich Karin selbst die Schuld. Sie war ungeduldig gewesen, hatte kein besseres Verhältnis zu ihrer Mutter aufbauen können. Tränen kamen. Sie sagte: „Ich hätte ihr vergeben sollen. Ich hätte Frieden mit ihr schließen müssen.“
Die Suche nach einer Erklärung
Während sie sprach, wurde mir klar, dass Karin viele Dinge aussprach, die sie lange in sich getragen hatte. Ihre eigenen Kinder hätten das nicht verstanden, und die Distanz zwischen den Generationen machte es schwer, solche Themen zu teilen.
Dann erzählte sie, dass sie als Neugeborenes sehr krank war und Monate im Krankenhaus verbringen musste. Ihre Eltern wussten nicht, ob sie überleben würde. Plötzlich kam ein anderer Gedanke: „Ich war undankbar, wenn ich solche Gefühle meiner Mutter gegenüber hatte. Sie hat sich doch Sorgen um mich gemacht.“
Doch kurz darauf verschob sich die Schuld erneut – diesmal auf den Vater. „Warum hat er meiner Mutter alles durchgehen lassen? Warum war er so sanft zu ihr?“
Es ist ein menschlicher Mechanismus, Schuld zu suchen, um mit einem Verlust umzugehen. Wir versuchen, einen Verantwortlichen zu finden – erst waren es die Pflegekräfte, dann die Mutter, dann die Tochter selbst, schließlich der Vater. Die Schuld hilft, den Schmerz greifbar zu machen, und verändert sich im Laufe der Trauer.
Umgang mit Schuld in der Trauer
Im ersten Impuls wollte ich ihr die Schuldgefühle nehmen, doch ich wusste, dass dies nicht immer hilfreich ist. Schuld kann eine Möglichkeit sein, sich dem Verlust zu nähern. Wie Chris Paul in ihrem Buch Schuld macht Sinn schreibt, hilft Schuld manchmal dabei, einen Weg durch die Trauer zu finden.
Am Ende unseres Gesprächs kam Karin nicht nur ins Mitgefühl mit ihrer Mutter, sondern auch mit sich selbst. Das allein war bereits ein wichtiger Schritt. Es gibt viele Möglichkeiten, mit Schuld umzugehen – darüber schreiben, sprechen, reflektieren.
Doch dieses Gespräch war noch nicht zu Ende…
Wege zur Inneren Heilung
Um mit vergangenen familiären Mustern und Herausforderungen in Frieden zu kommen, gibt es verschiedene Ansätze. Ob durch eine Familienaufstellung, das Schreiben eines Briefes oder andere individuelle Methoden – entscheidend ist, dass man einen Weg findet, der sich für einen selbst stimmig anfühlt.
Jeder hat die eigene Geschichte und somit auch die eigene Herangehensweise an persönliche Heilung. Es gibt kein festgelegtes Schema, das für alle passt. Wichtig ist, offen zu bleiben und sich zu erlauben, den Prozess so zu gestalten, wie es für das eigene Wohlbefinden hilfreich ist. Ob es darum geht, alte Wunden zu heilen, sich selbst besser zu verstehen oder einen inneren Frieden zu finden – alles, was dabei unterstützt, ist wertvoll
